Scheideweg revisited?

Man kann über Greta Thunberg denken, was man will, aber in manchen Belangen ist es wichtig, auf unsere Kinder zu hören. Guten Morgen. Heute ist der 35. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl.

Vor einigen Wochen dachte ich, dass es an der Zeit sei, meiner zehnjährigen Tochter beim gemeinsamen Filmegucken am Wochenende ausnahmsweise mal etwas anderes zuzumuten, als die üblichen Hamster, die sich als Geheimagenten ausgeben. Meine Wahl fiel auf „Die Welle“, „Animal Farm“ und „Die Wolke“, weil ich im Alter meiner Tochter ebenfalls mit diesen Inhalten konfrontiert wurde. Ok, es war ein paar Jahre später, aber meine Tochter ist auch wesentlich intelligenter als ich. Hütet euch vor ihr, denn sie wird irgendwann meinen Platz einnehmen. Sie wächst zwischen Erwachsenen-Comics und Künstlern auf, die beim Mittagessen schonungslos über alles reden, wonach die Tagesordnung verlangt, und sie hat einen Vater, der kein Blatt vor den Mund nimmt.

Was sich in unserem Zuhause nach dem Anschauen von „Die Wolke“ entspann, war ein unerwarteter, aber wochenlang andauernder Kernkraftwerke- und Atomkraftwerk-Diskurs. Meine Tochter wollte wissen, warum es überhaupt noch Kernkraftwerke auf der Welt gibt, nachdem uns Tschernobyl und Fukushima um die Ohren geflogen sind. Sie war fassungslos, als sie erfuhr, dass in Deutschland, ganz in unserer Nähe, und in unseren Nachbarländern immer noch Kernkraftwerke arbeiten. Sie konnte kaum glauben, dass so etwas Bescheuertes wie Castor-Transporte durch die Gegend fahren, und dass Menschen radioaktiven Müll einfach in der Erde verbuddeln oder an andere Länder für die dortige Endlagerung verkaufen; und wenn sie älter sei, so sagt sie, will sie dafür sorgen, dass diese Scheiße irgendwann und irgendwie aufhört. Ja, es ist so einfach: Wenn man versucht, einem Kind die Kernkraft zu erklären, hört man sich selbst nur aberwitzig beschissene Sätze ausspucken.

Ich habe meine Tochter gewarnt. Ich habe ihr gesagt, dass es manche Dinge auf der Welt gibt, denen man sein ganzes Leben widmen muss, damit man etwas erreicht. AUSSCHLIESSLICH. Wer die Wale retten will, kann sich nur um die Wale kümmern. Wer die Abholzung des Regenwalds zu stoppen gedenkt, sollte sich nur um die Abholzung des Regenwaldes kümmern. Wer der Kernkraft an den Kragen möchte … und so weiter.

Ich kam schon bei meiner Auseinandersetzung mit Tschernobyl in Zusammenhang mit meinem Buch UND DER NAME DES STERNS HEISST DEMUT nur sehr schwer mit dem Kernkraft-Komplex klar. Irgendwann musste ich mich von der Sache trennen, weil ich bemerkte, dass ein Mensch nicht mehrere Leben führen kann. Man kann nicht gleichzeitig eine Band und einen Verlag in Deutschland und eine Ruine, Kinderheime und verstrahlte Gebiete in der Ukraine betreuen. Auch heute noch fühle ich mich wie ein Verräter, wie ein kleiner Feigling, wenn ich an das Thema zurückdenke, ich fühle mich wie jemand, der seine Freunde im Stich gelassen hat, weil er mental „ausgestiegen“ ist, zwangsläufig aussteigen musste. Manchmal steht man einfach an einem Scheideweg.

Gestern bin ich an der Wiese vorbeigelaufen, auf der ich mir als Kind mit einer Freundin den Staub von Löwenzahn-Blumen ins Gesicht gerieben habe – wenig Tage, nachdem wie Wolken aus Tschernobyl über uns hinweggezogen waren und es geregnet hatte. Da stand ein alter Baum, den sie vor Kurzem abgesägt haben. Den Baumstumpf zu sehen, hat mich unheimlich angepisst. Scheideweg revisited?

In stillem Gedenken an alle, die vor 35 Jahren in Tschernobyl die Welt gerettet haben – denn das haben sie wirklich, lange, bevor es meine Tochter gab.